Thursday, August 29, 2019

Chamberlains Rede in Birmingham am 17. März 1939

Aus Chamberlains Rede in Birmingham
Am 17. März 1939
Es ist behauptet worden, daß die Besetzung der Tschechoslowakei die
unmittelbare Folge meines Besuches in Deutschland vom letzten Herbst war;
und da das Resultat dieser Ereignisse der Bruch der Abmachungen von
München ist, so beweise das, daß überhaupt die Beweggründe zu jenen
Besuchen verfehlt waren. Es wird gesagt, da dies die persönliche Politik des
Premierministers war, so müsse die Verantwortung für das Schicksal der
Tschechoslowakei auf seinen Schulter ruhen. Das ist eine völlig unhaltbare
Folgerung … Nun ich habe nie in Abredegestellt, daß die Bedingungen, die
ich in München sichern konnte, nicht  diejenigen waren, die ich selbst
gewünscht hätte. Aber wie ich damals erklärte, hatte ich mit keinem neuen
Problem zu tun. Es war etwas, was seit dem Versailler Vertrag immer
existiert hatte, ein Problem, das schon längst hätte gelöst werden sollen,
wenn bloß die Staatsmänner der letzten zwanzig Jahre eine großzügigere,
umfassendere und aufgeklärtere Auffassung von ihrer Pflicht gehabt hätten.
Es war wie ein lang vernachlässigtes Übel geworden, und ein chirurgischer
Eingriff wurde notwendig, um das Leben des Patienten zu retten …
Ich brauche meine Reisen nach Deutschland vom vergangenen Herbst
wirklich nicht zu verteidigen, denn welches war die Alternative? Nichts, was
wir hätten tun können, nichts, was Frankreich hätte tun können oder
Rußland hätte tun können, wäre imstande gewesen, die Tschecho-Slowakei
vor der Invasion und der Vernichtung zu bewahren. Selbst wenn wir anschließend in den Krieg gezogen wären, um Deutschland für seine Handlung zu bestrafen, und wenn wir nach den entsetzlichen, über alle Kriegsteilnehmer verhängten Verlusten am Ende siegreich gewesen wären, so
hätten wir die Tschecho-Slowakei niemals wiederherstellen können, so wie
sie vom Versailler Vertrag gestaltet worden war …
Jetzt aber stehen wir vor einem ganz anderen Problem. Der gestern in
Prag erlassenen Proklamation zufolge sind Böhmen und Mähren dem Deutschen Reich angeschlossen worden. Nichtdeutsche Einwohner, zu denen
natürlich auch die Tschechen gehören, werden dem Deutschen Protektor im
Deutschen Protektorat unterstellt. Sie haben sich den politischen, militärischen und wirtschaftlichen Bedürfnissen des Reiches zu unterwerfen. Sie
werden Staaten mit Selbstverwaltunggenannt, aber das Reich übernimmt
ihre Außenpolitik, ihre Zölle und Akzisen, ihre Bankreserven und die
Ausrüstung der entwaffneten tschechischen Armee. Und vielleicht das
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Unheimlichste: wir hören wieder vom Auftauchen der Gestapo, der geheimen Staatspolizei, und von der gewohnten Geschichte der Massenverhaftungen prominenter Persönlichkeiten mit den Folgen, die uns allen vertraut
sind …
Wer kann hindern, daß sich sein Herz in Sympathie dem stolzen und
tapferen Volk zuwendet, das so plötzlich ein Opfer dieser Invasion wurde,
dessen Freiheiten beschnitten sind und dessen nationale Unabhängigkeit
dahin ist? Was ist aus der Erklärung »keine territorialen Ansprüche mehr«
geworden? Was ist aus der Versicherung, »wir wollen keine Tschechen im
Reich«, geworden? Wieviel Rücksicht hat man genommen auf den Grundsatz der Selbstbestimmung, worüber HerrHitler in Berchtesgaden mit mir so
heftig diskutierte, als er die Trennung des Sudetengebietes von der Tschecho-Slowakei und dessen Einverleibung in das Reich forderte?
Jetzt wird uns gesagt, daß diese Gebietsergreifung notwendig geworden
sei durch Unruhen in der Tschecho-Slowakei … Wenn es zu Unruhen kam,
waren sie nicht von außen geschürt worden? Und kann irgend jemand
außerhalb Deutschlands die Idee ernst nehmen, daß sie eine Gefahr für
dieses große Land bildeten …?
Eine weitere Reihe von Fragen muß sich fast mit Notwendigkeit in uns
und in anderen und vielleicht sogar in Deutschland selbst erheben.
Deutschland hat der Welt unter seinem jetzigen Regime eine Serie von unangenehmen Überraschungen bereitet. Das Rheinland, der Anschluß Österreichs, die Lostrennung des Sudetengebietes — alle diese Dinge erregten
und empörten die öffentliche Meinung der ganzen Welt. Jedoch, soviel wir
auch einwenden mögen gegen die Methoden, die in jedem einzelnen dieser
Fälle angewandt wurden, etwas ließ sich doch sagen zugunsten der Notwendigkeit einer Änderung der vorhandenen Lage.
Aber die Dinge, die sich diese Woche unter völliger Mißachtung der von
der Deutschen Regierung selbst aufgestellten Grundsätze ereignet haben,
scheinen einer anderen Kategorie anzugehören, und sie müssen uns allen die
Frage nahelegen: »Ist dies das Ende eines alten Abenteuers, oder ist es der
Anfang eines neuen?« »Ist dies der letzte Angriff auf einen kleinen Staat,
oder sollen ihm noch weitere folgen?« »Ist dies sogar ein Schritt in Richtung
auf den Versuch, die Welt durch Gewalt zu beherrschen?«
Das sind schwere und ernste Fragen. Ich habe nicht vor, sie heute abend
zu beantworten … Es scheint in der Tat, mit den Lehren der Geschichte vor
Augen, unglaublich, daß es eine solche Herausforderung geben könne. Ich
fühle mich verpflichtet zu wiederholen,daß ich zwar nicht bereit bin, unser
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Land durch neue, nicht spezifizierte und unter nicht voraussehbaren
Bedingungen funktionierende Verpflichtungen zu binden, daß aber kein
größerer Fehler begangen werden könnte als der, zu glauben, unsere Nation
habe, weil sie den Krieg für eine sinnlose und grausame Sache hält, so sehr
ihr Mark verloren, daß sie nicht bis zur Erschöpfung ihrer Kraft einer solchen Herausforderung entgegentreten werde, sollte sie jemals erfolgen. Für
die Erklärung habe ich, davon bin ich überzeugt, nicht nur die Unterstützung, die Sympathie und das  Vertrauen meiner Mitbürger und
Mitbürgerinnen, sondern ich werde auch die Zustimmung des gesamten
Britischen Weltreiches und aller anderen Nationen haben, die zwar den
Frieden hochschätzen, aber die Freiheit noch höher.
(Aus: Jacques Benoist-Méchin, Geschichte der deutschen Militärmacht 1918-1946, Bd. 7: Wollte Hitler den Krieg, Oldenburg--Hamburg 1971)
zitiert nach:
David L. Hoggan - MEINE ANMERKUNGEN ZU DEUTSCHLAND (1990)

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