https://berlin.mfa.gov.hu/asset/view/104465/Gy%C3%B6rk%C3%B6s-Bellut%20ZDF%20DE%2020190904.pdf
Zitiert nach:
https://www.achgut.com/artikel/der_ungarische_botschafter_zum_wahrheitsgehalt_des_merkel_dokudramas
Botschafter von Ungarn
An Herrn
Dr. Thomas Bellut, Intendant
Zweites Deutsches Fernsehen
CC:
An Herrn
Dr. Peter Frey, Chefredakteur
Zweites Deutsches Fernsehen
Berlin, den 4. September 2019
Sehr geehrter Herr Intendant,
das ZDF hat am 4. September 2019 zur Hauptsendezeit ein
„Dokudrama“ zu den Ereignissen von vor vier Jahren ausgestrahlt. Ohne
Zweifel ist das Thema (nicht nur) in Deutschland von besonderem
öffentlichen Interesse. Unter Wahrung der geschriebenen und
ungeschriebenen Regeln meines Berufes und der gebotenen Achtung für
die deutschen Bürger und Politiker kommentiere ich die damit verbundenen
internen Debatten nicht öffentlich. Ich verfolge sie lediglich und
natürlich berichte ich darüber in angemessener Form an meine
Hauptstadt.
Nun gab es in dem erwähnten Film derart viele Elemente, die
Objektivität und Tatsachen missen haben lassen, und in Form von
„Einspielungen“ eine Reihe von Anspielungen auf mein Land und seinen
mehrfach demokratisch gewählten Ministerpräsidenten, dass ich mich
gezwungen sehe, darauf zu reagieren.
Was die ethischen und moralischen Normen verletzenden Passagen und
Andeutungen angeht, kann ich nur hoffen, dass die Autoren und Macher sie
mit ihrem Gewissen vereinbaren können.
Aber ich beschränke meine ins Traurige spielende Frustration auf die
Tatsachen. Der „Mythos vom Budapester Ostbahnhof“ ist nicht neu. Die
auch im Film immer wiederkehrende Behauptung, alles hätte hier und jetzt
seinen Anfang genommen und wäre Quelle aller Probleme, läuft der
schlichten geographischen Realität, den Bestimmungen des internationalen
und europäischen Rechts und den Ereignissen vom Sommer und Herbst 2015
diametral entgegen.
Der 4. September war einer von vielen Tagen in der seit Monaten
andauernden Migrationskrise. Ich selbst hatte damals, noch als Ständiger
Vertreter bei der EU in Brüssel, meinen Kollegen schon Wochen zuvor
signalisiert, dass die Zahl der täglich eintreffenden illegalen
Migranten bereits die zehntausender Marke überschreitet. Kenntnis und
Verständnis der Situation belegt kaum etwas deutlicher als die Tatsache,
dass das Bundesministerium des Innern am 19. August, zwei Wochen bevor
sich der „Marsch der Hoffnung“ in Bewegung setzte, die Zahl der bis zum
Jahresende erwarteten Zuwanderer auf 800.000, also auf das Doppelte der
bis dahin geltenden Schätzung, korrigiert hatte. Es waren dann am Ende –
wenn ich mich nicht irre – 890.000. Nicht unerwähnt lassen sollten wir
auch den Tweet des BAMF vom 25. August über die Aussetzung der Anwendung
der Dublin Verordnungen, der der Zuwanderung durchaus eine neue Dynamik
verlieh.
Auch sollte man die simple geographische Gegebenheit berücksichtigen,
dass den Budapester Ostbahnhof mehr als 1000 km von der Außengrenze der
EU und des Schengenraumes trennen. Beachten wir internationales Recht
(Art. 31 der Genfer Konvention) oder europäisches Recht (Schengener
Grenzkodex, Dubliner Verordnung) sind zwei Dinge festzuhalten: Die
illegalen Einwanderer sind auf ihrem Weg durch nicht weniger als fünf
oder sechs Staaten gezogen, in denen ihr Leben nicht in Gefahr war, sie
also keine Flüchtlinge mehr waren. Zudem ignorierten sie bewusst alle
Dubliner und Schengener Regelungen, denn ihnen war klar, wohin sie
wollten.
Ungarn hat mit der Entscheidung europäische Regelungen durchzusetzen
große materielle, politische und moralische Risiken auf sich genommen.
Wir haben weder Dank noch Anerkennung erwartet, dafür wurden uns täglich
unbegründete Kritik und moralische Belehrungen zuteil. Seitdem sind
vier Jahre vergangen, die Dinge haben sich langsam wieder in Richtung
der Einhaltung von Recht und Ordnung bewegt, schrittweise gelingt es uns
Ordnung und Humanität miteinander in Einklang zu bringen, doch die
realitätsfremde, und von Fall zu Fall an Ehrverletzung grenzende
Propaganda hört nicht auf.
Jedenfalls kann ich nur erneut und immer wieder anbieten, dass ich
dem ZDF und anderen öffentlich-rechtlichen oder privaten Medien bei
Interesse an den Tatsachen oder dem ungarischen Standpunkt jederzeit
bereitwillig zur Verfügung stehe. Es wäre an der Zeit statt
Schmutzkampagnen und Fiktionen, die die geografische Realität außer Acht
lassen und als Wahrheit präsentieren, die Fakten gewähren zu lassen.
Mein beruflicher Werdegang hat es mit sich gebracht, dass ich die
Ereignisse sowohl 1989 (damals als für die DDR zuständiger Referent des
ungarischen Außenministeriums) als auch im Sommer und Herbst 2015
(zunächst als ständiger Vertreter bei der EU, dann ab Oktober 2015 als
Botschafter in Berlin) aus unmittelbarer Nähe verfolgen konnte. Den
ersten Stein aus der Mauer, die das eigene Volk eingeschlossen hielt,
haben die Ungarn herausgeschlagen. 2015 hat sich Ungarn für die
Einhaltung und Durchsetzung europäischen Rechts und für den Schutz der
Lebensform und des Wirtschaftsmodells, die die Grundlage der EU bilden,
und des durch Schengen geschützten Binnenmarktes eingesetzt, und den
illegalen Zustrom über die grüne Grenze gestoppt.
Grundlage und ein natürlicher Zug unseres gemeinsamen Daseins und
unserer Zusammenarbeit ist, dass wir die Welt in manchen Fällen aus
anderem Blickwinkel und durch andere Sichtweise betrachten. Situationen
wie diese zu klären gelingt jedoch nur auf der Basis von Respekt für
unser Gegenüber und für die Tatsachen. Der von Ihnen gezeigte Film tut
keinem dieser Kriterien Genüge.
Mit freundlichen Grüssen
Dr. Péter Györkös