Thursday, July 11, 2013

Erich Fromm

Erich Fromm
Aus Anatomie der menschlichen Destruktivität S. 202 ff.
...Ich meine jenen Aspekt des Denkens, bei dem der Mensch eine völlig neue Eigenschaft erworben hat – „das Bewusstsein seiner selbst“.
Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das nicht nur Objekte kennt, sondern das auch weiß, dass er sie kennt. Der Mensch ist das einzige Lebewesen , das nicht nur eine instrumentale Intelligenz, sondern Vernunft besitzt, die Fähigkeit, seinen Verstand dazu zu benutzen, objektiv zu verstehen – das heißt, das Wesen der Dinge, wie sie an und für sich sind, und nicht nur als Mittel zu seiner Befriedigung zu erkennen. Mit dem Bewusstsein seiner selbst und mit dieser Vernunft begabt, ist der Mensch seiner Getrenntheit von der Natur und von anderen Menschen bewusst; er ist sich seiner Machtlosigkeit und seiner Unwissenheit bewusst; und er ist sich seines Endes bewusst, des Todes.
Bewusstsein seiner selbst, Vernunft und Phantasie haben die „Harmonie“ zerstört, welche die tierische Existenz kennzeichnet. Durch ihr Erscheinen ist der Mensch zur Anomalie, zu einer grotesken Laune des Universums geworden. Er ist Teil der Natur, ihren physikalischen Gesetzen unterworfen und unfähig sie zu ändern, und doch transzendiert er die Natur. Er ist getrennt von ihr und doch ein Teil von ihr. Er ist heimatlos und doch an die Heimat gekettet, die er mit allen Kreaturen teilt. An einem zufälligen Ort und zu einem zufälligen Zeitpunkt in die Welt geworfen, ist er gezwungen, sie, wie es der Zufall will, und gegen seinen Willen zu verlassen. Da er sich seiner selbst bewusst ist, erkennt er seine Ohnmacht und die Begrenztheit seiner Existenz. Er ist frei von der Dichotomie seiner Existenz. Er kann sich nicht von seiner Denkfähigkeit frei machen, selbst wenn er es wollte. Er kann sich nicht von seinem Körper freimachen solange er lebt – und sein Körper zwingt ihm den Wunsch, zu leben, auf.
Der Mensch kann sein Leben nicht leben, indem er lediglich das Muster seiner Spezies wiederholt. Er muss leben. Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das sich in der Natur nicht zu Hause fühlt, das sich aus dem Paradies vertrieben fühlen kann, das einzige Lebewesen, für das die eigene Existenz ein Problem ist, das es lösen muss und dem es nicht entrinnen kann. Er kann nicht zu einem vormenschlichen Zustand der Harmonie mit der Natur zurückkehren und er weiß nicht, wohin er kommt, wenn er vorwärts geht. Der existenzielle Widerspruch im Menschen führt zu einer ständigen Störung seines inneren Gleichgewichts. Diese Störung unterscheidet ihn vom Tier, das in „Harmonie“ mit der Natur lebt. Das bedeutet nicht, dass das Tier unbedingt ein friedliches glückliches Leben führt, aber es bedeutet, dass es seinen spezifischen ökologischen Platz hat, dem seinen physischen und psychischen Eigenschaften durch den Evolutionsprozess angepasst worden sind. Das existenziell und daher unvermeintlich gestörte innere Gleichgewicht des Menschen kann relativ stabil sein, wenn er mit Hilfe der Kultur auf mehr oder weniger adäquate Weise mit den existenziellen Problemen fertig geworden ist. Aber diese relative Stabilität besagt nicht, dass die Dichotomie verschwunden ist. Sie schlummert nur und manifestiert sich, sobald die sich die Voraussetzungen für diese relative Stabilität ändern. Im Prozess der Selbstwerdung des Menschen wird seine relative Stabilität immer wieder erschüttert. Der Mensch verändert im Verlauf seiner Geschichte seine Umwelt, und bei diesem Prozess ändert er auch sich selbst. Sein Wissen nimmt zu, aber damit auch das Bewusstsein seiner Unwissenheit. Er erlebt sich als Individuum und nicht als Mitglied seines Stammes, und damit nimmt sein Gefühl der Abgetrenntheit und Isolierung zu. Er schafft immer größere und leistungsfähigere soziale Einheiten, die von machtvollen Führern geleitet werden, und wird furchtsam und unterwürfig. Er erreicht ein gewisses Maß von Freiheit – und bekommt Angst vor dieser Freiheit. Seine Kapazität für materielle Produktion nimmt zu, aber er selbst wird im Verlauf dieses Prozesses gierig und egoistisch, Sklave der Dinge, die er selbst geschaffen hat.

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