Erich Fromm
Aus Anatomie der menschlichen Destruktivität S. 202 ff.
...Ich meine jenen Aspekt des Denkens, bei dem der Mensch eine völlig
neue Eigenschaft erworben hat – „das Bewusstsein seiner selbst“.
Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das nicht nur Objekte kennt,
sondern das auch weiß, dass er sie kennt. Der Mensch ist das einzige
Lebewesen , das nicht nur eine instrumentale Intelligenz, sondern
Vernunft besitzt, die Fähigkeit, seinen Verstand dazu zu benutzen,
objektiv zu verstehen – das heißt, das Wesen der Dinge, wie sie an und
für sich sind, und nicht nur als Mittel zu seiner Befriedigung zu
erkennen. Mit dem Bewusstsein seiner selbst und mit dieser Vernunft
begabt, ist der Mensch seiner Getrenntheit von der Natur und von anderen
Menschen bewusst; er ist sich seiner Machtlosigkeit und seiner
Unwissenheit bewusst; und er ist sich seines Endes bewusst, des Todes.
Bewusstsein seiner selbst, Vernunft und Phantasie haben die „Harmonie“
zerstört, welche die tierische Existenz kennzeichnet. Durch ihr
Erscheinen ist der Mensch zur Anomalie, zu einer grotesken Laune des
Universums geworden. Er ist Teil der Natur, ihren physikalischen
Gesetzen unterworfen und unfähig sie zu ändern, und doch transzendiert
er die Natur. Er ist getrennt von ihr und doch ein Teil von ihr. Er ist
heimatlos und doch an die Heimat gekettet, die er mit allen Kreaturen
teilt. An einem zufälligen Ort und zu einem zufälligen Zeitpunkt in die
Welt geworfen, ist er gezwungen, sie, wie es der Zufall will, und gegen
seinen Willen zu verlassen. Da er sich seiner selbst bewusst ist,
erkennt er seine Ohnmacht und die Begrenztheit seiner Existenz. Er ist
frei von der Dichotomie seiner Existenz. Er kann sich nicht von seiner
Denkfähigkeit frei machen, selbst wenn er es wollte. Er kann sich nicht
von seinem Körper freimachen solange er lebt – und sein Körper zwingt
ihm den Wunsch, zu leben, auf.
Der Mensch kann sein Leben nicht leben, indem er lediglich das Muster
seiner Spezies wiederholt. Er muss leben. Der Mensch ist das einzige
Lebewesen, das sich in der Natur nicht zu Hause fühlt, das sich aus dem
Paradies vertrieben fühlen kann, das einzige Lebewesen, für das die
eigene Existenz ein Problem ist, das es lösen muss und dem es nicht
entrinnen kann. Er kann nicht zu einem vormenschlichen Zustand der
Harmonie mit der Natur zurückkehren und er weiß nicht, wohin er kommt,
wenn er vorwärts geht. Der existenzielle Widerspruch im Menschen führt
zu einer ständigen Störung seines inneren Gleichgewichts. Diese Störung
unterscheidet ihn vom Tier, das in „Harmonie“ mit der Natur lebt. Das
bedeutet nicht, dass das Tier unbedingt ein friedliches glückliches
Leben führt, aber es bedeutet, dass es seinen spezifischen ökologischen
Platz hat, dem seinen physischen und psychischen Eigenschaften durch den
Evolutionsprozess angepasst worden sind. Das existenziell und daher
unvermeintlich gestörte innere Gleichgewicht des Menschen kann relativ
stabil sein, wenn er mit Hilfe der Kultur auf mehr oder weniger adäquate
Weise mit den existenziellen Problemen fertig geworden ist. Aber diese
relative Stabilität besagt nicht, dass die Dichotomie verschwunden ist.
Sie schlummert nur und manifestiert sich, sobald die sich die
Voraussetzungen für diese relative Stabilität ändern. Im Prozess der
Selbstwerdung des Menschen wird seine relative Stabilität immer wieder
erschüttert. Der Mensch verändert im Verlauf seiner Geschichte seine
Umwelt, und bei diesem Prozess ändert er auch sich selbst. Sein Wissen
nimmt zu, aber damit auch das Bewusstsein seiner Unwissenheit. Er erlebt
sich als Individuum und nicht als Mitglied seines Stammes, und damit
nimmt sein Gefühl der Abgetrenntheit und Isolierung zu. Er schafft immer
größere und leistungsfähigere soziale Einheiten, die von machtvollen
Führern geleitet werden, und wird furchtsam und unterwürfig. Er erreicht
ein gewisses Maß von Freiheit – und bekommt Angst vor dieser Freiheit.
Seine Kapazität für materielle Produktion nimmt zu, aber er selbst wird
im Verlauf dieses Prozesses gierig und egoistisch, Sklave der Dinge, die
er selbst geschaffen hat.
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